Mittwoch, 30. April 2014

Der Schrei

Nacht für Nacht höre ich diesen Schrei. Selbst im tiefsten Traum lässt er mich erschaudern und blitzartig aufwachen. Ich eile meist zum Fenster und beobachte die nächtliche Landschaft. Unser Haus liegt direkt am See in der Nähe eines Waldes, von dem sich im Dorf viele Geschichten erzählt werden. Die einen behaupten, eine Bestie würde dort sein Unwesen treiben, die anderen erzählen sich Geschichten von einem grellen Lichtschein, der um die Baumwipfel wandelt. Ich war schon oft in dem Wald, solange ich denken kann bin ich dort auf Entdeckungstouren gewesen, doch bisher ist mir noch nie etwas aufgefallen. Jedoch ertönt schon seit längerem dieser Schrei und kommt an Vollmond immer näher ans Haus heran. Meine Eltern hören ihn nicht und denken meist, ich würde mir das alles nur einbilden, aber ich weiß doch was ich höre! 
Ich, John  Bess, bin nicht bescheuert und weiß was ich höre, da können mich meine Eltern so oft zu Psychologen schicken wie sie wollen! Ich bleibe bei dem und gebe nicht eher auf, bis ich die Ursache gefunden habe!

Heute Nacht war es wieder soweit. Es war Vollmond und ich war bereit für meine nächtliche Expedition. Meine Eltern schliefen tief und fest, als ich mich am Schlafzimmer vorbei schlich. Leise ging ich zum Ufer des Sees und betrachtete das Spiegelbild des Vollmonds im ruhenden Wasser. Der Mond war gerade erst aufgegangen und die Sterne schimmerten ihm entgegen. Ein leichtes Lüftchen rauschte durch den Wald. 
Ich beschloss, nun in den Wald zu gehen und zog meine Taschenlampe aus der Tasche. 
Auch wenn der Mond alles magisch beleuchtete, konnte ich an manchen Orten nichts erkennen. Behutsam ging ich Schritt für Schritt immer tiefer in den Wald hinein. 
Mit jedem Schritt wuchs meine Angst, aber dennoch wollte ich nicht aufgeben. Alles um mich herum  war still, totenstill... Da! Plötzlich raschelte etwas im Gebüsch. Aber es war nur ein Waldkauz.
Nach einer halben Ewigkeit wollte ich umkehren, aber da ertönte wieder dieser Schrei. Ich konnte in diesem Moment nicht sagen, ob er von einem Menschen oder einem Tier stammte... Er klang schrill und traurig, als ob jemand weinen würde. Gebannt folgte ich dem Schrei und verlief mich unbemerkt im Wald. Auf einer kleinen Waldlichtung vor einem Höhleneingang blieb ich stehen. Es schien aus der Höhle zu kommen. Mit zitternder Hand leuchtete ich mit der Taschenlampe hinein und erkundete die Höhle. Am Ende des großen Ganges war ein heller Lichtschein. Das ganze Gewölbe war von ihm erfüllt. Irgendwas stimmte nicht mit diesem Ort. Ich verspürte hier eine Menge Magie, als ob noch jemand im Raum wäre. Da ertönte plötzlich dieser Schrei ganz dicht hinter mir. Rasch drehte ich mich um. Ein Mädchen in einem weißen Gewand hockte zusammengekauert in der Mitte des Gewölbes. Langsam blickte sie zu mir hoch. Tränen liefen an ihren Wangen runter. ,,Hilf mir", sagte sie leise mit schallender Stimme. ,,Hab keine Angst. Ich tue dir nichts. Ich will dir helfen. Wer bist du?" Behutsam beugte ich mich zu ihr hinunter. Das Mädchen hatte lange blonde Haare und hatte blaue Augen, die den Mondschein spiegelten. Ängstlich wich sie etwas zurück und betrachtete mich von Kopf bis Fuß. ,,Ich bin Ayana." Mit starren Augen starrte sie auf meine Schuhe. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie barfuß war. ,,Wieso trägst du keine Schuhe?", fragte ich sie und deutete auf ihre Füße. ,,Damit ich die Natur spüren kann." - ,,Warum hast du so geschrien?" Das Mädchen näherte sich ihm: ,, Damit ich gefunden werde." Ich nickte und fragte weiter: ,,Wie kann ich dir helfen?" - ,, Mir ist nicht mehr zu helfen. Flieh! Flieh bevor er dich auch noch kriegt. Lauf weg und such dir ein Versteck. Sonst hat er dich auch gefangen, wie mich..." - ,,Von wem redest du?" - ,,Von dem Geist des Waldes. Er hat schon viele gefangen. Um sich an jenen zu rächen, die seinen geliebten Wald zerstören wollen." Erschrocken starrte ich auf den Boden. 

Plötzlich ertönte hinter mir wieder dieser Schrei und dann wurde mir klar, dass es nicht das Mädchen war, sondern ein Geist in Gestalt eines riesigen weißen Wolfes. 
,,Was machst du hier in meinem Reich?" - ,,Ich...Ich habe diesen Schrei gehört und wollte herausfinden, was dahintersteckt." - ,,Du kannst ihn hören? Den Schrei der leidenden Tiere?" - ,,Ja...Nur meine Eltern können ihn nicht hören. Sie halten mich für geisteskrank." - ,,Deine Eltern gehören zu den Menschen , die die Natur nicht verstehen können. Doch du, du bist ganz anders. Ich habe dich schon oft in diesem Wald gesehen, deine Freude an der Natur bemerkt.Helfe mir den Wald zu beschützen. Bald soll der ganze Wald gerodet werden und alles Leben muss den Baggern weichen. Doch wir lassen uns nicht vertreiben!" Als der Geist ,wir´gesagt hatte, tauchten aus jedem Winkel Tiere auf. Rehe, Hirsche, Wildschweine und auch Dachse und Füchse tauchten auf. Und auch die kleinsten Vögel flogen durch die Felsspalten und ließen sich auf Klippen nieder. ,,Sag, John...Stehst du uns bei? Auch Ayana hat sich für uns entschieden." Ich zögerte einen Moment. ,,Kann ich denn jemals wieder nach Hause?", fragte ich und schaute in die Runde. ,,Wenn der Krieg vorbei ist ja." Ich war einverstanden und beschloss, für den Wald und all sein Leben zu kämpfen. Der Geist und Ayana brachten mir alles bei, was ich über den Wald wissen musste, wie ich kämpfen sollte und wie man seine Umgebung geschickt zur Tarnung benutzt. Mit der Zeit verliebte ich mich in Ayana und beschloss, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, zu meinem Vater, dem Holzfäller, und zu meiner Mutter, der Bürgermeisterin. Aber dennoch hinterließ ich ihnen einen Abschiedsbrief, indem ich von meiner Enttäuschung schrieb, wie sehr mich ihre Lüge verletzt hatte und wie sehr sie der Natur geschadet hatten. 

Am Tag der Abrechnung kamen die Bagger am Waldrand an. Ich hing mit anderen Tieren in den Bäumen, während Ayana eine Armee von Hirschen anführte. 
Von oben flogen Vögel im Sturzflug auf die Bagger herab und ließen Steine auf die Bagger fallen. Die Eichhörnchen und Mäuse versteckten in den Auspuffen zahlreiche Nüsse, um diese zu verstopfen. Die Baggerführer stiegen alle aus und liefen, von den Hirschen gejagt, davon. Wir alle taten unser bestes. Als die Arbeiter verschwunden waren, seilte ich mich von einem Baum ab und schlug auf die Baggerscheiben ein, sodass diese in tausend Scherben zersprangen. Und auch der Geist zeigte seine Macht. Er blies mit einem gewaltigen Windstoß die Bagger um und hetzte den Arbeitern ebenfalls hinterher. 

Nach dem Kampf war der Waldrand ein Ort der Verwüstung. Zwar waren jetzt die Arbeiter fort, aber es kamen immer mehr schaulustige Menschen zum Waldrand, um sich das Chaos anzusehen. Auch meine Eltern waren da. Als sie mich sahen, fingen sie an zu weinen. ,,John! Endlich haben wir dich wiedergefunden!" Sie stürmten auf mich zu, doch ich wich zurück. Sie waren schuld an dem Disaster. Hätte meine Mutter die Rodung nicht beschlossen, wäre das alles nicht passiert. Nun sah sie es ein und stieg fest entschlossen auf einen der umgefallenen Bagger. ,,Bürger von Guiddelton. Durch diesen Kampf haben die Tiere uns gezeigt, dass sie für ihr Zuhause kämpfen wollen und nicht wegen eines Golfplatzes ihre Heimat verlassen wollen. Wie blind bin ich all die Zeit nur gewesen, um nicht zu verstehen, was ich mit meiner Entscheidung alles verloren hätte. Meinen Sohn, ein Naturparadies und zahlreiche Tierarten. Ist euch ein Golfplatz so wichtig , dieses Paradies zu zerstören? Immer mehr Wälder werden zerstört. Dabei sollten wir die Natur doch erhalten und nicht vernichten! Wer ist dabei, auf den Golfplatz zu verzichten?" Alle Schaulustigen hoben die Hand. Im Gebüsch raschelte es. Der Geist hatte sich die ganze Zeit über versteckt. Nun kam er aus seinem Versteck hervor und zeigte sich zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit. ,,Bürgermeisterin von Guiddelton. Ich danke Ihnen für Ihre Ansprache. Mein Name ist Ahkuna. Ich bin der Geist des Waldes und hüte die Natur schon seit tausenden von Jahren. All die Jahre habe ich versucht, die Rodung vieler Wälder zu verhindern. Nun ist es mir mit der Hilfe Ihres Sohnes und allen Waldbewohnern gelungen, die Natur zu beschützen. Ich hoffe dieser Wald bleibt noch lange erhalten. Denn auch ein Geist kann nicht ewig sein.Ich werde jetzt für immer verschwinden müssen, da ich gegen das Gesetz der Geister verstoßen habe und mich in aller Öffentlichkeit gezeigt habe. " 
Ahkuna...Das war also ihr Name, der Name einer Wölfin , die ihre Existenz aufs Spiel gesetzt hatte, um meiner Mutter zu danken. Es ertönte ein letztes Mal ein Schrei. Diesmal konnten ihn auch meine Eltern hören, die es immer noch nicht fassen konnten, einem Geist begegnet zu sein. Von einem Moment auf den anderen löste sich Ahkuna in Luft auf und flüsterte mir in letzter Sekunde zu: ,,Beschütze sie". Ich wusste was er meinte und beschloss, Förster zu werden, um die Natur beschützen zu können. Nach diesem Tag kehrte ich zu meinen Eltern zurück. Ayana nahm ich mit. Sie war ein Waisenkind, das ganz allein im Wald aufgewachsen war und durch Ahkunas Hilfe überlebt hatte. 

Von diesem Tag an wurde jedes Jahr im Dorf ein Fest zu Ehren Ahkunas gefeiert, um unserem Werk zu gedenken.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen